Die letzte Woche... ?

1. - 7. September - das war meine letzte Woche auf dem Reiserad. In dem Bewusstsein, dass es die letzte Woche sein wird, bin ich diese auch angegangen: Bewusst, alles aufsaugend und voller Freude. Gleichzeitig wusste ich von der ersten Sekunde zurück auf dem Reiserad, dass es genau das richtige Timing ist, dass diese Reise zu Ende geht. Ist das nicht perfekt? Überglücklich über die zurückliegenden 4 Monate, glücklich über den Moment und glücklich über alles was kommen wird. Mit diesem perfekten Gefühl der Zufriedenheit hat mich in dieser Woche auch nichts aus der Ruhe gebracht! Obwohl es einige Gründe dafür gegeben hätte... Denn diese letzte Woche war so voller Ironie. Sie war wie eine Zusammenfassung der letzten 4 Monate (ich habe so vieles kompakt noch einmal wie „zusammengefasst“ in einer Woche erlebt - im Falle, dass ich etwas vergessen haben könnte) und hat mir on top noch einige neue Momente beschert (positiv wie negativ). Über jeden Moment habe ich mich gefreut, denn er hat meine Reise vollständig und perfekt gemacht.
 
Aber chronologisch…
 
Einmal mehr hatte ich einen Abschied vor mir und es war einer der schwersten - aus meiner zweiten Heimat Massa Vecchia. Ich finde keine Worte, die meine Zeit dort und meine Dankbarkeit dafür beschreiben könnten. Hinzu kommt, dass Schwalbe mir dort zwei neue Reifen und Tubeless-Material für meine weitere Reise mitgegeben hat - das war dringend notwendig und ich bin unglaublich dankbar über diese Großzügigkeit und konnte dank Schwalbe meine Reise mit einem wesentlich entspannteren Gefühl fortsetzen. Die G-One Tubeless-Gravel-Reifen sind der perfekte Begleiter für eine Radreise, bei der man auf Asphalt schnell rollen möchte und gleichzeitig den Spaß auf Trails nicht vernachlässigen möchte. Danke an Ernesto und Ciumba, die mir geholfen haben, die Reifen zu montieren und für neue Bremsbeläge.
 
Trotz des schweren Abschieds wusste ich, dass auch dieser Zeitpunkt genau zur richtigen Zeit gekommen war. Die ersten Meter liefen sehr gut und ich konnte mich - nach vielen Mountainbike-Kilometern - auch wieder am Radreisen und an der wunderschönen Landschaft der Toskana erfreuen. Ich habe sofort wieder die ganze Freude gespürt, die einem das Radreisen und insbesondere die Natur geben können, wenn man sich voll darauf einlässt und bewusst wahrnimmt und genießt. Ab dem ersten Meter war ich also zurück im Flow. Unglaublich. Auch wenn das Fahren mit Gepäck ziemlich nervig war :D.
 
Den -eigentlich- kurzen Weg zum Hafen nach Piombino wollte ich etwas spannender gestalten und mir außerdem noch einen besonderen Ort anschauen und habe mich daher für die Route durch den Complesso Forestale Montioni entschieden. Semi-gute Idee. Zuerst ist ein Wildschwein seelenruhig an mir vorbeigetrabt, danach wurde ich nicht nur von Mücken attackiert - nein besser - es sind auch noch Bremsen um mich herum geschwirrt und haben gestochen. Der erste Teil des Weges war nicht fahrbar, ich habe aber optimistisch geschoben und bin mit der Autan-Flasche bewaffnet weiter vorangekommen. Bis… ja bis der Weg, der auf Komoot eingezeichnet war, leider komplett zugewachsen war. Da ich nicht komplett umkehren wollte, habe ich über Google Maps versucht, einen anderen Weg zu finden. Über eine Waldschneise habe ich mein Rad fast 30 Minuten bergauf und bergab geschoben in der Hoffnung auf der anderen Seite des Waldes herauszukommen. Dabei bin ich öfter gestürzt, habe mein Rad dauernd fallen lassen und meine Ortlieb Taschen kaputt gemacht. Gebracht hat das Ganze leider nichts. Auch dieser Weg hat mich irgendwann nicht mehr weiter geführt. Ich stand also - 3 Stunden nach meiner Abfahrt - mitten im Wald, auf keinem offiziellen Weg, mit meinem Rad und Gepäck (an das ich mich offensichtlich erst wieder gewöhnen musste), völlig verstochen, keine Kraft mehr und fühlte mich das erste mal komplett verloren und wusste nicht, in welche Richtung ich weiter gehen sollte. Dachte ich am Vormittag noch, dass ich genügend Zeit hätte, da meine Fähre erst um 23 Uhr ging, bekam ich langsam also auch noch Zeitdruck. Dann habe ich die einzige kluge Entscheidung getroffen und bin den kompletten Weg, den ich gekommen war wieder zurück, um dann schließlich doch auf der Bundesstraße nach Piombino zu fahren. Aus geplanten entspannten 40km wurden demnach 70 aufregende, nervige, gefährliche, herausfordernde, teilweise laufende, anstrengende Kilometer.

 

Ironie? Durch diese Verzögerung bin ich genau zum Sonnenuntergang in Follonica am Meer angekommen und an der Küste entlanggefahren. Wunderschön! Ich musste aber dennoch Gas geben, hinzu kam, dass es dunkel wurde - auf der Bundesstraße - in Italien :D. Aber als ich schon sicher war, dass jetzt nichts mehr schief gehen konnte, hat Komoot mich in eine gesperrte Straße geschickt und ich musste wieder 6km unnötigen Weg fahren. Danach habe ich im Dunkeln und in meiner Erschöpfung noch ein Auto gestreift. Das tat zum Glück nur mir weh und nicht dem Auto oder meinem Rad. Irgendwie bin ich dann aber tatsächlich rechtzeitig am Hafen angekommen. Außerdem hatte die Fähre dann auch noch 45 Minuten Verspätung. Gut? Schlecht? Glück? Unglück? Völlig egal, ich saß einfach seelenruhig und routiniert neben meinem Rad, hab mein Abendbrot gegessen und auf das Schiff gewartet. Ich wusste, dass das der beschissenste Tag meiner Reise war, aber ich wusste es und habe es abgehakt ohne weiter darüber rumzujammern oder nachzudenken.
 
Fähre? Jaa, nach langen Überlegungen habe ich auf mein Herz gehört und mich entschieden über Korsika nach Südfrankreich zu fahren. Damit hatten mein Rad und ich in der letzten Woche also auch noch die erste richtige Fährfahrt der Reise sowie die erste und einzige Insel "im Gepäck" - nachdem mein Wunsch, auf einer Nordseeinsel zu fahren, nicht funktioniert hatte. Außerdem gab es auch eine neue Schlafplatz-Erfahrung: Irgendwo mit der Isomatte an Deck der Fähre.
 
Um 6:00 sind wir in Bastia/Korsika angekommen und ich bin während des Sonnenaufgangs entlang der Küstenstraße Richtung Norden gefahren. Es war das erste Mal auf meiner Reise, dass ich einen Sonnenaufgang komplett, so nah, klar und radfahrend miterlebt habe. In zwei Tagen habe ich die Nordspitze Korsikas umrundet, das sogenannte Cap Corse. Es waren die zwei wunderschönsten und magischsten Tage auf meiner Reise - wie schön, dass ich auf mein Herz gehört habe und dorthin gekommen bin. Es ist eine unglaublich tolle und vielseitige Insel - vor allem zum Radfahren. Hinter jeder Kurve erwartet einen eine neue atemberaubende Landschaft. Auf meiner Reise wollte ich einmal am Strand direkt am Meer campen und wisst ihr wo dieser Traum wahr geworden ist? Genau, auf Korsika! Ich bin mit dem Wellenrauschen eingeschlafen und wieder aufgewacht. Und konnte mein Glück kaum fassen. Aber danach wusste ich, dass das Leben auch noch meinen letzten Traum von einer Nacht unter freiem und klarem Sternenhimmel auf meiner Reise erfüllen wird.


Außerdem wurde mir auch in dieser letzten Woche bestätigt, wie hilfsbereit die Menschen sind - gefragt und ungefragt. Auf dem Campingplatz haben mir Deutsche Bargeld geliehen, damit ich meine Unterkunft bezahlen konnte und zwei andere Camper haben mir einen Campingstuhl gegeben, damit ich mir den Sonnenuntergang bequemer anschauen konnte. Es war übrigens ein wundervoller Sonnenuntergang ;-).
 
Nach zwei Tagen auf Korsika ging es also am Abend des 3. Septembers weiter mit der Fähre von Korsika nach Marseille. Marseille? Oh nein, Toulon! Da plant man alles so genau. Und merkt nicht, dass man eine Fähre nach Toulon gebucht hat. Mir ist es erst aufgefallen, als mir am Hafen versichert wurde, dass der Check-in für die Fähre nach Marseille bereits geschlossen sei. Als ich schon kurz davor war (das erste mal auf meiner Reise), die Mitleids-/Tränenkarte zu spielen, wurde ich freundlich darauf hingewiesen, mein Ticket einmal genauer zu lesen... nach dieser kurzen Aufregung musste ich über mich selbst den Kopf schütteln. Wieder über Nacht ging es also nach Toulon - es schläft sich wirklich überraschend gut an Deck einer Fähre - zumindest wenn man müde genug ist.
 
Das schönste an meiner Reise waren die Menschen, die ich getroffen habe, insbesondere über Couchsurfing und Warmshowers. Das wollte ich auch in meiner letzten Woche noch einmal erleben. Und, ihr ahnt es? Meine letzten drei Nächte habe ich genau so verbracht. 1x Couchsurfing und 2x Warmshowers. Geht es besser? Na klar, denn es waren super tolle, inspirierende und unterschiedliche Begegnungen, Lebensentwürfe und Geschichten: Cecilia und Damian aus Aix-en-Provence haben bereits zusammen eine Weltreise für ein Jahr gemacht. Mit Sonia, Jean und ihren Söhnen Francesco und Martin -in meinem Alter- hatte ich einen wunderschönen französisch-italienischen Familienabend & meine letzte Nacht sowie meinen Geburtstagsmorgen habe ich bei Elizabeth (77) & und dem jungen Joseph (75) in ihrem ursprünglich als Ferienhaus geplanten Haus mitten in der Provence in Piolenc verbracht. Sie sind Warmshower-Gastgeber seit ihr Sohn eine Radreise gemacht hat. Es war etwas komplett anderes, als ich mir wahrscheinlich jemals für meine letzte Nacht und meinen Geburtstag vorgestellt hätte, aber es war genau richtig. Ich hatte Ruhe und Zeit für mich, um alles sehr bewusst zu erleben. Das besondere und mein schönstes Geschenk am Morgen war, als Joseph mir den Blick von ihrem Schlafzimmerfenster aus auf den Mont Ventoux bei Sonnenaufgang gezeigt hat. Ein Bild, das ich nie vergessen werde.


Man lernt ja am besten, wenn man etwas am eigenen Leib erfährt. Wisst ihr was Mistral ist? Ich jetzt schon und ich werde es nie wieder vergessen! Und ich werde auch nicht vergessen, aus welcher Richtung er durch das Rhonetal fegt, wie er entsteht und vor allem welche Kraft er entwickeln kann. Die letzten drei Tage meiner Radreise waren die windigsten meines Lebens. Um etwas Puffer zu haben, hatte ich meine letzten Etappen mit 50-60km/Tag sehr kurz geplant. Was für ein Glück, denn es wäre kein Kilometer mehr drin gewesen bei dem böigen (Gegen-) Wind. Zum einen war es sehr anstrengend. Zum anderen wurde es einfach sehr gefährlich. Insbesondere auf Bundesstraßen (bei jeder Windböe habe ich angehalten um nicht unkontrolliert auf die Autospur geweht zu werden oder gleich geschoben) und freien Feldern (hier hat mich der Wind manchmal einfach umgepustet, sodass ich gestürzt bin - ja das sah ziemlich unbeholfen aus :D). Noch mehr Ironie? Meine gefährlichste Brückenüberquerung war gleichzeitig die Schönste in diesen Tagen. Aber mit meinem Ziel vor Augen habe ich auch diese Tage irgendwie ganz ruhig und entspannt geschafft.
 
Ist das Leben nicht ironisch?
Es braucht Wind, um die Windstille zu schätzen.
Es braucht steinige Wege, um die ebenen Straßen zu schätzen.
Es braucht Traurigkeit, um das Glück zu schätzen.
Es braucht harte Realität, um die Wunder sehen zu können.
Wir müssen die Leere in uns spüren, um die Magie fühlen zu können.
Wir müssen Fehler machen, um zu wachsen. 
Wir müssen Angst haben, um Mut zeigen zu können.

 

Vor allem müssen wir irgendwann einmal starten, um an einem Ziel ankommen zu können.
 
Und so bin ich nach (m)einem wundervollen (Geburts-) und letzten Radreisetag an meinem Ziel an der Ardeche in Vagnas - im Bikehotel Domaine du Frigoulet angekommen. Auf den letzten 10 Kilometern habe ich dann auch schon mal auf die ganz direkte Weise einen Eindruck davon bekommen, wie das Mountainbiken hier werden wird :D (Über 4 Monate hatte ich kein einziges Problem mit Komoot, es ist die perfekte App zum Radreisen, aber in der letzten Woche hat sie mich teilweise wirklich in die Irre geführt - einmal sogar noch auf eine Autobahn) - aber hey, es waren die letzten 10 Kilometer, who cares, ich habe geschoben, dabei einen Podcast und Musik gehört und hatte dann noch riesigen Spaß dabei, die Schottertrails bergab in Angriff zu nehmen. Besonders schön war natürlich, dass mein Vater bereits da war und mich begrüßt hat. Es ist so wertvoll, einen Menschen in diesem Moment dabei zu haben, der genau weiß, was für eine Bedeutung diese Ankunft hat und dich in den Arm nimmt. Danke! Danke natürlich auch an die ganze "Gruppe Paul", die mich herzlich begrüßt hat :-)!
 
Auch das ist Ironie. Denn als ich meine Reise gestartet habe, wusste ich nicht wohin sie mich führen würde, geschweige denn für wie lange. Aber wenn mir jemand gesagt hätte, dass ich bis Mitte September unterwegs bin, dabei auch noch Kroatien, Slowenien, Italien, Korsika und Südfrankreich mitnehme, zwei Bikehotels besuche und der letzte Radreisetag mein Geburtstag sein wird, dann hätte ich es niemals geglaubt. Alles hat sich irgendwie gefügt - so viel Glück, dass ich es nicht begreifen kann.
 
Letzte Woche? Nicht ganz. Denn im Frigoulet habe ich noch eine Woche verbracht. Was für ein Glück und Luxus, nach über 4 Monaten "Auszeit", noch eine Woche Urlaub zu haben, oder besser gesagt "Zeit". Zeit, um meinen Kopf zumindest ein wenig darauf einzustellen, dass diese Reise nun vorbei ist und eine neue beginnen wird. Gar nicht so leicht, das kann ich euch sagen - und ich bin unglaublich erschöpft. Aber auch diese Woche war noch ein (sehr wichtiger) Teil der Reise. Danke an alle, die diese Woche zu einer so lehrreichen und besonderen gemacht haben.
 
Ich weiß, dass die kommenden Wochen und Monate alles andere als leicht werden. Aber ich weiß die richtigen Menschen um mich herum (ob nah, ob fern, ob alte oder ganz neue Freundschaften), werde Geduld beweisen müssen und vertraue auf meine Stärken und vor allem dem Leben - das mir Ironie, Traurigkeit und Glück genau in den richtigen Momenten bringen wird, da bin ich mir ganz sicher!

 

Ich danke dir, dass du meinen Blog so fleißig gelesen hast und damit Teil meiner Reise warst.
Ich danke für all die lieben Nachrichten, die mich täglich erreicht haben.
Ich danke für all die großen und kleinen Unterstützungen in jeglicher Hinsicht.
Vor allem danke ich für die unglaubliche Unterstützung bei meiner Spendenaktion für World Bicycle Relief - die Spendenaktion läuft übrigens noch bis zum 30.09 :)
Ich hoffe, dass wir dadurch alle ein bisschen mehr "The Power of Bicycles" verstehen.
Ich hoffe vor allem, dass ich jeden einzelnen etwas inspirieren konnte.

 

Ihr werdet hier sicher nach etwas Abstand noch einmal von mir hören, aber für jetzt...

...freue ich mich unglaublich all meine geliebten Lieblingsmenschen wieder in die Arme schließen zu können in den nächsten Wochen - Es braucht Abwesenheit, um Anwesenheit schätzen zu können!

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