Regentage

„Everybody wants happiness, nobody wants pain, but you can’t have a rainbow without a little rain.“
 
Es ist kaum zu glauben, nichts von meinem letzten Blogeintrag war übertrieben, aber mit dem Tag, als ich ihn fertig erstellt hatte, kamen schwierigere Tage für mich.
 
Von meinem neuen Selbstbewusstsein angetrieben, wollte ich ab dann noch kostensparender unterwegs sein und von meinem Tramp-Glück von Berlin nach Dresden begeistert, wollte ich es noch weiter bis Prag versuchen. Ich stand an drei verschiedenen Stellen (geeignete Stellen mit dem Fahrrad zu finden ist gar nicht so einfach), aber bin leider nicht weitergekommen. Anstatt am Morgen einfach den Elberadweg zu nehmen, stand ich also nachmittags noch immer irgendwo außerhalb von Dresden. Meine Stimmung war demnach nicht so gut und anstatt einmal kurz nachzudenken bin ich dann einfach losgefahren und dachte mir „Wenn mich keiner mitnimmt, fahr ich eben selbst bis Prag - und wenn ich die Nacht durchfahre.“ - Den Gedanken fand ich nach 1000hm und in der Dämmerung an der deutsch-tschechischen Grenze dann nicht mehr so geil. Aber da stand ich dann und konnte es nicht ändern. Hinzu kam, dass es schwierig war in dieser Gegend einen Platz zum Campen zu finden und wohl gefühlt habe ich mich auch nicht. Da mir auch nichts anderes übrig geblieben wäre, bin ich also weiter gefahren zum „nächsten“ Bahnhof - 18km weiter und einen Berg von 700hm zu überwinden. Mein Rücklicht hat den Geist aufgegeben, es wurde kalt und ich müde. Da ich auch dort keine Unterkunft gefunden habe, habe ich den letzten Zug erwischt, der nach Prag gefahren ist (& Fahrräder mitgenommen hat), wo ich um 22.37 Uhr angekommen bin und noch ein Hostel buchen konnte.
 
Ich habe mich alles andere als gut gefühlt, aber irgendwie musste ich dann selbst etwas über die ganze Situation lachen: Ich hatte mir am Morgen in den Kopf gesetzt, bis Prag zu kommen und bin - auch wenn ganz anders als geplant - tatsächlich an diesem Tag noch dort angekommen. Wie krass. Und ich wusste auch, dass es Geschichten wie diese sind, die ich wohl noch am längsten von dieser Reise erzählen werde. Ich habe also versucht, das Positive zu sehen und mich so selbst wieder etwas hochzuziehen: Ich habe an diesem Tag seit Wochen wieder Höhenmeter gemacht und auf 700hm den Sonnenuntergang vor einer tollen Kulisse gesehen und das erste Mal einen Eindruck davon bekommen, wie Tschechien landschaftlich beschaffen ist. Ich habe tatsächlich einen Bahnhof gefunden und einen Zug nach Prag für mein Fahrrad, ich hatte WIFI im Zug, Brot und Käse übrig für ein Abendessen im Zug, ich hatte eine Unterkunft, konnte mein Rad im Hostel sicher unterstellen und duschen. Und glaubt mir, ich habe noch nie so schnell und gut geschlafen und ein Bett (im 10-Bett-Zimmer) so sehr genossen!
 
Da ich etwas von Prag sehen wollte, bin ich am nächsten Tag neuen Mutes zu einer Free Walking Tour. Leider durfte ich mein Rad und mein Gepäck nicht im Hostel stehen lassen, die Leute von der Tour konnten/wollten mir auch nicht helfen, mein Rad unterzustellen und erst im dritten Radladen, in dem ich nachgefragt habe, durfte ich es unterstellen. Nachdem ich so viel Positives erlebt habe in den letzten zwei Monaten, habe ich in den letzten Tagen wirklich oft ein „Nein“ zu hören bekommen. Aber immerhin durfte ich die spätere Walking Tour mitmachen und habe einen Eindruck von Prag bekommen und einiges über die Geschichte von Tschechien gelernt - was wirklich hilfreich war, da ich in meiner Zeit in Tschechien so gut wie nie in Kontakt mit Tschechen gekommen bin…und  daher so wenig über das Land und seine Leute weiß, wie über kein anderes durch das ich bisher gereist bin.
 
Da es mir aber nicht so gefallen hat, ging es am Nachmittag mit dem Rad weiter in Richtung Wien. Man sollte wissen, dass zwischen Prag und Wien NICHTS ist, keine Menschen, kein Supermarkt, keine Stadt, kein Hostel, kein Camping & demnach auch so gut wie keine Couchsurfing oder Warmshower-Hosts. Hinzu kommt, dass mein Datenvolumen aufgebraucht ist und ich ohne WIFI nichts mehr organisieren kann.
Habe ich das Glück zu sehr herausgefordert mit meiner ungeplanten Art? Macht mir das Radreisen noch Spaß? Warum fühle ich mich so komplett anders als noch vor einer Woche? Macht es mir Spaß, Berge und querfeldein zu fahren oder bevorzuge ich doch eher die Radfernwege? Soll ich durch Tschechien doch den Zug nehmen, oder muss ich da jetzt einfach durch? Hätte ich doch lieber eine andere Route wählen sollen? Soll ich mir einen Job suchen und an einem Ort länger bleiben Wie kann es sein, dass ich letzte Woche so viel Glück gespürt habe und jetzt wieder in so einem Loch hänge? Wie kann ich einen Glücksblogeintrag veröffentlichen, wenn ich mich ganz und gar nicht danach fühle? Und wie kann ich darin von Dingen sprechen, die ich selbst gerade nicht einhalten kann? Wie kann ich mich aus diesem Tief selbst wieder rausholen?
 
Mein Mut für Wildcampen ist in Tschechien verloren gegangen und ich habe mich nicht wohl gefühlt  - was für ein Glück, dass der einzige Warmshowers-Host weit und breit, dem ich verzweifelt eine SMS geschrieben habe, mich kurzfristig aufgenommen hat. Zwar musste ich dafür noch 27km und einige Höhenmeter fahren (es war schon 19 Uhr), aber auch wenn ich mich nicht gut gefühlt habe, was für ein Glück ist das bitte? Und das Gute, wenn man ein Ziel hat, das man so schnell wie möglich erreichen möchte: Man denkt nicht mehr nach, man fährt einfach und das hat mich gerettet. Ich bin einfach stur gefahren, egal wie kalt, bergig und hart es war. Manchmal ist es eben auch gut, ein Ziel zu haben, zu dem man schauen kann. Karel und Eva hatten eigentlich keine Zeit und keinen Platz, haben mich aber in ihrer neuen Wohnung, die noch in Renovierung ist, übernachten lassen. Was für ein Glück!
 
Am nächsten Tag habe ich mir geschworen, mich nicht mehr von negativen Gedanken und Gefühlen leiten zu lassen und mir wieder Ziele zu setzen. Ich habe also einen Campingplatz ausfindig gemacht und konnte mit diesem Ziel vor Augen auch endlich wieder die Strecke genießen. Für den nächsten Tag wollte ich das wieder so machen, doch dann hat es in der Nacht angefangen zu regnen und nicht mehr aufgehört, meine Beine waren müde vom Vortag, weil sie die Berge nicht mehr gewohnt waren und einfach alles war nass. Ganze 15km zum nächsten Campingplatz habe ich es an diesem Tag geschafft.
 
Jeden Tag habe ich es nun geschafft, mich selbst wieder hochzuziehen und dann kommt doch wieder etwas, das mich zurückwirft - schwierige Tage eben… aber keine schlechten. Am Campingplatz war ich die einzige, aber die Besitzerin hat sich sehr lieb um mich gekümmert und ich hab mich sehr aufgefangen gefühlt. Allerdings war auch sie keine Tschechin sondern Holländerin. Nach einer Nacht voller Regen habe ich entschieden, auf mein Gefühl zu hören und habe am nächsten Tag den Zug bis Znojmo in Richtung österreichische Grenze genommen - es tat so gut, voranzukommen und dabei einfach nichts machen zu müssen. Und zum ersten Mal habe ich mich (mit Händen und Füßen zwar) mit ein paar Tschechen im Zug unterhalten.
 
Znojmo hat eine schöne Altstadt und auf meinem Weg von dort zum Campingplatz bin ich durch einen tollen Nationalpark und wunderschöne Weinberge gefahren - diese 8 Kilometer haben alles aufgewogen. Alles! Und ich konnte gar nicht glauben, wie ich zweifeln konnte.
 
Vielleicht war Tschechien nicht mein Land, vielleicht war die gewählte Strecke nicht cool, vielleicht kann Tschechien auch gar nichts dafür - weil es im Endeffekt meine Einstellung ist… ehrlich keine Ahnung. Vielleicht wird Tschechien in der Nachbetrachtung mein lehrreichstes und damit doch zu meinem besten Land werden. Wer weiß das schon.
 
Der Gedanke, am nächsten Tag bis Wien zu kommen, war sicher hilfreich und ich habe mich das erste mal seit langem wieder auf die Strecke gefreut. Und meine Klamotten waren zwar nicht gewaschen aber immerhin trocken und auch das Zelt konnte ich in der Morgensonne trocknen lassen. Ich habe die Strecke durch die Weinberge, an Sonnenblumenfeldern und flach nach Wien genossen. Dann habe ich Brigitte getroffen. Langsam fahren ist auch eine Herausforderung, kann ich dazu nur sagen. Aber ich habe die letzten Tage einige Videos von Eckhart Tolle angeschaut und er sagt immer: „Accept the situation as if you have chosen it“ - und das habe ich. Auch als wir drei mal von Regengüssen erwischt wurden und patschnass wurden. Dafür haben wir uns dann 30km vor Wien zwei Wein “reingeschüttet”. Brigitte ist echte Wienerin und ganz lieb. Sie ist wohl die erste Frau, der ich den Satz: „Ich bin überzeugter Single“ abnehme - habt ihr so etwas schon einmal von einer 60-jährigen gehört? 😂
 
Da es nicht aufgehört hat zu regnen, hat Brigitte den Zug genommen - nicht ich, weil ich unbedingt nach Wien reinfahren wollte und ich mich schon seit Wochen auf meine Ankunft an der Donau freue. Naja, 30km Starkregen. Alles, was am Morgen mühsam getrocknet wurde, war wieder nass und auch mein Smartphone, das ich als Navi nutze wurde ziemlich nass - aber hat überlebt. Mein Rücklicht funktioniert immer noch nicht. Aber ich war nicht schlecht gelaunt, eventuell hätte man mich in eine Anstalt einliefern können als ich 20km lang vor mich hin gesagt habe: “I accept the situation as if I have chosen it. I love rain. There’s no rainbow without a little rain….“ …und auch im strömenden Regen war es toll, an der Donau anzukommen und erst recht in Wien :-) - auch wenn meine Radschuhe drei Tage später noch immer nicht trocken sind. Mittlerweile ist mir der Spruch mit dem Regenbogen hier in Wien schon viermal begegnet.
 
Was habe ich erfahren? Ich habe erfahren, dass es kein großes Glück gibt ohne den Schmerz. Wir können niemals etwas schätzen, wenn wir das Gegenteil nicht gespürt haben. Jeder hat sein Kreuz zu tragen, aber in unserem größten Schmerz liegt unsere größte Erfüllung (Eckhart Tolle hat es mit dem Kreuz Jesu verglichen). In diesen herausfordernden Situationen lernen wir nicht nur das Glück mehr zu schätzen sondern wir lernen uns selbst besser kennen, wir lernen, was wir wollen und was wir nicht mögen, wir lernen uns selbst aus solchen Situationen rauszuholen. Wir lernen auf unser Gefühl zu hören. Und wenn das bedeutet, den Zug aus Tschechien raus zu nehmen obwohl das dem Land sicher nicht gerecht wird. Und wenn es bedeutet Campingplätze zu zahlen, auch wenn das das Tagesbudget überschreitet. Wir lernen, darauf zu vertrauen, dass alles kommt wie es kommen soll. Wir lernen, unseren Schmerz nicht zu überspielen sondern ihn anzunehmen, ihn von allen Seiten zu begutachten und damit umzugehen. Wir schieben ihn nicht weg, aber wir lassen ihn auch nicht die Kontrolle übernehmen. Wir lernen, dass wir stark genug sind, um aus eigener Kraft solche Situationen lösen zu können. Wir lernen aber auch noch mehr die Menschen wertschätzen, die uns in solchen Momenten eine Stütze sind. Wir lernen, auch in schweren Momenten, bei uns und unseren Werten zu bleiben und die kleinen Dinge des Lebens zu schätzen.
 
Ich mag Wien und bin hier jetzt schon den 4. Tag. Obwohl mir Wien gut gefällt, habe ich noch immer ein gedämpftes Gefühl, aber ich tue ganz viel, das mir gut tut. So habe ich viel geschlafen, eine Sachertorte gegessen, ein Bild mit einem Fiaker und meinem Rad gemacht (Danke für die “Wenn ich du wäre”-Aufgaben an meine Cousine), war im Hundertwasser Village, in einer tollen Ausstellung im Kunstmuseum (ÜberLeben am Land), hatte ein Bier bei Vollmond am Donaukanal, war bei einem Couchsurfing-Treffen wo wir einen Blick über die Dächer Wiens hatten, war im Café Vollpension, das von Omas und Opas betrieben wird, war beim Yoga im Park am Prater und hatte danach eine tolle Zeit mit den Menschen dort, die mir sehr viel Kraft gegeben haben.
 
Als ich mich danach komplett verfahren habe und statt um 21 Uhr erst um 22 Uhr bei meinem Host Honzo angekommen bin, war meine Yoga-Ausgeglichenheit wieder dahin - aber er hat mir noch die Türe aufgemacht und kümmert sich seitdem sehr um mich. Ich war am Schloss Schönbrunn, im botanischen Garten, im Museumsquartier und kann mich nicht entscheiden, ob ich heute Abend zum Klassikkonzert beim Filmfestival gehen soll oder  zum Oscar-prämierten Film im Open Air-Kino. Was für eine lebenswerte Stadt!  
 
Und dennoch..ich mache mir Gedanken, wie es weiter geht. Wie ihr sicher bemerkt habt, verlängert sich meine Reise etwas ;-) und ich freue mich sehr, auf alles was kommt. Vor allem auf eine Zeit in Italien bei ganz wunderbaren Menschen und an einem magischen Ort. Aber dadurch wird das Reisebudget natürlich nicht größer und man reist eben nicht mehr ganz so mit freiem Herzen. Aber ich bin mir ganz sicher, dass ich mich auch aus diesem Tal wieder raushole - Hundertwasser würde sagen:
„Each raindrop is a kiss from heaven.“
 
Und vielleicht war ja auch Tschechien “a kiss from heaven” für mich :-)!

PS: Irgendwo in Tschechien habe ich die 3.000km-Marke überschritten. Unglaublich!


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Kommentare: 2
  • #1

    Sarah (Mittwoch, 17 Juli 2019 21:51)

    Ich kann es sehr gut verstehen, dass du dich von Wien nicht losreißen kannst. Es ist so eine tolle Stadt �

  • #2

    Andi (Donnerstag, 18 Juli 2019 17:52)

    Wie sagte der tschechische Schriftsteller Bohumil Hrabal: „Das Leben ist schön, zum Verrücktwerden schön. Nicht, dass es das wäre, aber ich sehe es so.“