Eine lebenslange Reise

Das Losfahren nach Rock am Ring war wie gesagt gar nicht so einfach, aber das Leben hat es mir leicht gemacht und mir einige Engel geschickt. In Aachen kam ich 10 Minuten vor dem Gewitter an und bin somit trocken geblieben, mein Host Lutz war auch ein Radreisender und wir konnten uns stundenlang über das Radfahren unterhalten, außerdem hat er mir einige Tipps gegeben und mich am nächsten Tag bis zum Dreiländereck mit dem Rad begleitet - es war seine erste Fahrt nach einer längeren Pause und es war schön, dass ich Teil davon sein und seine Freude sehen durfte, um mich selbst wieder daran zu erinnern, wie schön ich es aktuell habe!

 

In Maastricht habe ich eine halbe Stunde vor meiner Ankunft, gegen 18 Uhr noch eine Unterkunft gefunden. Matthias hat mich netterweise spontan gehostet und auch er ist schon mit dem Rad durch Spanien, Portugal und Schweden gereist und wir konnten wieder über unsere typischen Radreise-Erlebnisse sprechen - ich bin definitiv nicht die einzige, die alles überplant hat ;-). Es tut so gut, mit solchen Menschen zu sprechen. Und wenn ich ab und an schwere Momente habe, dann denke ich daran, wie Matthias seine Weinflasche den ganzen Tag mit rumgefahren hat, um dann bei Regen mit einem Glas Wein in seinem überschwemmten Zelt zu sitzen (sorry ;-)). Außerdem habe ich in der wohl schönsten WG Maastrichts übernachtet und durfte den Regen am Vormittag abwarten, bevor es weiter nach Belgien ging.

 

Dort habe ich das erste mal das „Paalkaamperen“ („Pfahlcamping“) ausprobiert, dass es in Belgien und Holland gibt. Das sind ausgewiesene Plätze, an denen man kostenlos campen kann, hier gibt es eine Karte, wenn jemand das auch mal unbedingt ausprobieren möchte. Für mich ist es eine super Sache aktuell! Man glaubt allerdings gar nicht, wie laut die Natur nachts sein kann. Dafür konnte ich mit der Morgensonne meditieren, frühstücken und entspannt zusammenpacken! Von dort ging es weiter nach Brüssel. Auch wenn es flach wurde, waren meine Beine sehr müde und der Wind hat auch nicht gerade geholfen, genauso wenig wie die weniger schöne Strecke. Und zur Stimmung hat das alles auch nicht beigetragen. Da war es ein Glück, dass ich auf meinem Weg Miriam getroffen habe - okay, sie hat mich eingeholt - und in gutem Deutsch erzählt hat, dass sie gerade auf dem Heimweg von einer mehrtägigen Radtour ist. Man sollte wissen, dass sie 66 Jahre alt ist. Während ich versucht habe, ihr Tempo mitzuhalten und ohne außer Atem zu klingen zu antworten, habe ich gleichzeitig versucht herauszufinden, wo der Akku an ihrem Fahrrad wohl verbaut ist. Es gab keinen Akku. Mein Trödel-Tempo wurde also eingetauscht gegen eine lebendige und schnelle Fahrt. Ich war nicht so in Sprech-Laune, aber Miriam hat einfach erzählt und gefragt und war so herzlich, das tat sehr gut. Sie ist eine tolle Frau, hatte auch schon 500km in den Beinen, ihre Höchstgeschwindigkeit mit ihrem Damenrad an dem Tag waren 55km/h, sie arbeitet ehrenamtlich in Belgien, Afrika und der Schweiz, fährt Rad oder läuft für Spenden, Deutsch hat sie vom Fernsehen gelernt, vor 5 Jahren  hat sie noch Italienisch gelernt für Ihre Radfahrt nach Italien, sie hat mich mit Schokolade versorgt und hätte mir sogar einen Schlafplatz angeboten. „Wenn man im Sessel sitzen bleibt, dann wird man eben auch alt. Bewegung und Ernährung sind das Wichtigste.“

 

Kurz nachdem Miriam nach Hause abgebogen ist, hat es angefangen zu regnen und ich konnte mich in eine Tankstelle retten und war auch sehr froh über eine Pause nach 20km Racing mit Miriam. Seitdem war meine Laune aber wieder besser und ich wieder im Radfahr-Modus. Seitdem denke ich öfter an sie wenn ich wieder wie eine Omi fahre, um dann wieder mehr Gas zu geben. Brüssel hat mir dann nicht wirklich gefallen, obwohl ich wirklich alle Sehenswürdigkeiten abgeklappert habe. Daher ging es am nächsten Tag schnell weiter nach Antwerpen. Ich wollte nur weg aus Brüssel, auch ohne eine Unterkunft in Antwerpen zu haben. Die hat sich mittags erst irgendwann ergeben, hauptsächlich weil Olivier ein schlechtes Gewissen gehabt hätte, wenn er meine Anfrage abgelehnt hätte, wie sich später herausstellte. Er war ein großartiger Host. Hat mir am Abend noch eine Antwerpen-Tour vom Feinsten gegeben - wenn ihr irgendetwas über Antwerpen wissen wollt, fragt mich, ich weiss es - und hatten noch ein typisch flemmisches Abendessen (& natürlich ein Bier aus Antwerpen) im De Bomma (Großmutters Restaurant). Man kann ein gerahmtes Bild seiner Großmutter abgeben, dann wird es dort aufgehängt. Am nächsten Morgen habe ich bis 11 Uhr geschlafen, Olivier hat es zum Glück mit Humor genommen, außerdem hat es sowieso den ganzen Vormittag geregnet, sodass ich spontan einen Tag länger geblieben bin. Aus Spargründen gab es diesmal ein anderes typisch belgisches Abendessen: Frites! Ich überlege, nächstes Jahr für die Antwerp 10 Miles zurückzukommen, falls noch jemand Lust hat, wir haben auf jeden Fall einen Host und Anfeuerer :-).

 

Mein Highlight von Antwerpen nach Holland war die Polizistin, die mich auf Niederländisch über drei Autospuren hinweg angebrüllt hat - ich weiß nicht genau warum - und dann weiter gebrüllt hat, weil ich ihre Sprache nicht spreche. Mit so viel Aggression kann ich leider nicht umgehen und nachvollziehen schon gar nicht. Zumal ich die einzige bin, die sich (meistens) konsequent an Verkehrsregeln hält… nunja, „It‘s about them“. Aber spätestens als ich das Meer über die Brücke nach Holland gekreuzt habe, war auch das vergessen und ich bin seitdem im Urlaubsmodus angekommen, vor allem weil ich einen idyllisch gelegenen Pfahlcampingplatz mit einem wundervollen Sonnenuntergang hatte.

 

Es gibt hier in Holland so viele schöne (& flache) Radwege durchs Grüne und am Wasser entlang mit Tieren überall, alles ist super beschildert. Leider bedeutet das nicht, dass die Autofahrer umsichtiger fahren - im Gegenteil, man muss wirklich vorsichtig sein. Es ist aber schön zu sehen, wie viele Menschen Rad fahren. Ich glaube ja immernoch an autofreie Innenstädte! Ein erster Scrhritt wurde in Frankfurt schon gemacht: https://www.fr.de/frankfurt/innenstadt-ort904326/radfahren-frankfurt-radentscheid-diskussion-velo-12497601.html

 

Die Strecke mit den schönsten Städten war dann eindeutig über Rotterdam und Delft nach Den Haag. Und die bisher landschaftlich  schönste und flowigste Strecke war von Den Haag an der Nordsee entlang und durch die Dünen nach Castricum - macht das unbedingt, wenn ihr dort seid!

 

Auf dem Weg nach Den Haag habe ich wieder eine Frau getroffen, sie war auch sehr schnell unterwegs - hatte zu meiner Verteidigung aber sicher 15kg Gepäck weniger als ich ;-) - auch sie ein Engel, wie auch der 71-jährige Albert, bei dem ich in Den Haag übernachten durfte. Ich hatte so viel Respekt vor ihm und wie er sein Leben lebt, dass ich etwas verängstigt zunächst gar nicht richtig ich selbst war. Aber auch ohne dass wir viel Zeit hatten zu sprechen, hat er ganz schnell ganz viel verstanden (kennt ihr solche Menschen, die euch nicht in die Augen sondern direkt ins Herz schauen?) Und ich glaube, er kennt mich jetzt schon besser als ich mich selbst :D. Er hat mir einige wertvolle und sehr konkrete Ratschläge gegeben - für mein Leben und für meine weitere Route - und mir heute noch dieses Video geschickt. Schaut es euch an!

 

Seitdem bin ich sehr am nachdenken, dazu kam noch, dass ich in Castricum bei Megan und Marcel übernachtet habe. 

Wir hatten einen so schönen Abend, mit Picknick am Strand (wir sind mit dem Rad dort hingefahren und auch nach Stunden auf dem Rad hat es mir einfach nur Spaß gemacht -vor allem ohne das ganze Gepäck) und sie haben mir eine typisch holländische Delikatesse mitgebracht: Gesalzenen Hering mit Zwiebeln - ja, es hat mir sogar geschmeckt. Megan ist aus den USA und für ein Jahr mit dem Rad in Neuseeland, Vietnam und Europa gereist. Sie hat für mich alles wieder in Relation gesetzt, weil sie mit so viel mehr Herausforderungen auf ihrer Reise zu kämpfen hatte, als ich hier in Europa. Es war auf jeden Fall cool, mit einer anderen Frau über unsere Erfahrungen zu sprechen und gleichzeitig nichts Besonderes daraus zu machen, sondern das Radfahren einfach als eine Art des Reisens zu sehen. Außerdem kann ich jetzt neben "Je ne parle pas francais" auch "Ik spreek geen Nederlands" sagen.

 

Zu sehen, wie die beiden ihr Leben führen, hat mich sehr inspiriert und zusammen mit Alberts Ratschlägen ist in meinem Kopf gerade ganz viel los. Es ist wahr, man kann nämlich auch auf einer Reise in eine Art Alltag verfallen. Ein Alltag zwar, in dem kein Tag wie der andere ist, ich nach wie vor keine Ordnung in meinen Taschen habe, ich jeden Tag einen anderen Rhythmus lebe, jeden Tag neue Menschen kennenlerne und immer kurzfristig plane wo ich schlafe, hin fahre oder was ich wie wann wo esse - aber eben ein Alltag und dann vergisst man ganz schnell wieder “out of the box” zu denken, sich zu hinterfragen und hält viel zu sehr an einem Plan fest.

 

Ich freue mich so sehr über all eure lieben Kommentare und Nachrichten, eure Unterstützung für mich und/oder meine Spendenaktion für World Bicycle Relief sowie die ein oder andere Träne, hoffe aber auch, dass ihr ab und zu beim Lesen auch lachen könnt, vorausgesetzt man versteht Ironie.

 

Alles, was ich hier schreibe und der Fakt, dass ich gerade hier in Holland sitze, ist das Ergebnis eines langen Prozesses und Jahre voller Arbeit für mich. Was ich schreibe, sind keine plötzlichen schlauen Eingebungen, die ich beim Radfahren bekomme, es sind die Ergebnisse der letzten 3 Jahre, in denen ich sehr viel über Persönlichkeitsentwicklung gelesen, gehört und gesprochen habe, Veranstaltungen besucht habe, an Webinaren teilgenommen habe, Menschen getroffen und Dinge ausprobiert habe. Das war sehr viel Arbeit, zumal ich das neben Job und Sport irgendwann nachts oder am Wochenende gemacht habe. Allem voran stehen aber die Menschen, die mich erst dorthin gebracht haben, meine wunderbaren einzigartigen Freunde, mit denen ich mich über solche Dinge sehr ehrlich und tiefgründig unterhalten kann, in einer Freundschaft, in der wir uns gegenseitig immer wieder challengen. Danke an Regine, die mir gezeigt hat, das Leben zu lieben. Danke an Misko, der mit seinem Wissen und seiner Art das Leben anzugehen so viele Dinge für mich neu geordnet hat. Danke an Valerie, mit der man Themen wissenschaftlich, philosophisch und emotional von allen Seiten stundenlang beleuchten kann. Dieser Blog und meine Reise sind das Ergebnis der letzten Jahre und nicht der Reise selbst. Die Reise gibt mir einfach viel mehr die Zeit, diese Dinge nicht nur rational zu verstehen, sondern auch zu leben. Sie gibt mir die Zeit, diese Dinge aufzuschreiben in der Hoffnung, dass nicht nur ich daraus lerne sondern dass der ein oder andere von euch neben Tränen auch etwas für sich mitnimmt. Der letzte Dank geht an Joni, der auf die Frage, wie es sich anfühlt, kein zu Zuhause zu haben, eine gute Antwort gegeben hat: „Sie hat doch ein Zelt!“ - von Kindern lernen wir eben doch am meisten.

 

Eine Sache habe ich aber erst jetzt gelernt, und zwar, dass es keine kurze Reise ist, in der ich mich kurz selbst finde und dann ist alles gut und das Leben geht weiter wie vorher. Diese Reise wird mein Leben lang andauern und ich bin so froh darüber. Ich möchte, dass zu keinem Zeitpunkt in meinem Leben ein Alltag einkehrt. Wir können immer weiter wachsen, unsere Reise hier auf Erden ist nie vorbei und ich werde sie solange machen und mich selbst challengen, wie ich lebe. Für ein erfülltes Leben, in dem viel mehr möglich ist, als wir uns zu erträumen wagen "Follow yout heart - and take action", würde mein aktueller Host, Kevin, sagen. Zusammen haben wir uns gerade noch ein Video angeschaut - macht euch selbst ein Bild davon - bevor er zur Nachtschicht als Rettungssanitäter los musste. Ich hatte heute einen wunderschönen Tag, eigentlich hatte ich mir wenige Kilometer vorgenommen, weil ich in den letzten Tagen viel unterwegs war, aber das Radfahren und die Landschaft haben mir so Spass gemacht, dass ich einfach immer immer weiter gefahren bin, es war sooo toll!

 

Auch von meinem Host aus Nancy habe ich nachträglich ein Geschenk per WhatsApp erhalten - „a three minutes gift, it‘s heavy indeed, yet it helps to make us lighter“. Schaut es euch gerne auch an.


Ich freue mich unglaublich auf Amsterdam und die nächsten Tage. Besonders schön ist es nämlich, wenn man Freunde hat, die einen auf einer lebenslangen Reise ein Stück begleiten!

Kommentar schreiben

Kommentare: 0