So leicht

Als ich in Luxemburg losgefahren bin, hatte ich ein komisches Gefühl, das Wetter war regnerisch gemeldet und ich wusste nicht, wie die nächsten Tage werden sollten, wo ich schlafen sollte. Was ich wusste war, dass es, wenn ich direkt nach Belgien fahren würde, auf jeden Fall wenig Zivilisation und damit wenige Möglichkeiten zum Einkaufen, Essen geschweige denn Hosts oder Campingplätze zu finden geben wird. Aber Greg hatte mir empfohlen, nach Süd-/Ostbelgien zu fahren, weil es so schön sein soll -er war dort schon mit dem Motorrad unterwegs. Also habe ich das einfach gemacht und habe den einzigen Campingplatz, der in Fahrradreichweite auf Google Maps ersichtlich war, mit einem etwas mulmigen Gefühl angesteuert.

Doch ich habe in den letzten Monaten gelernt - und das versuche ich seit Beginn meiner Reise - viel mehr auf mein Gefühl und meine Intuition zu hören und dann dem Leben zu vertrauen, dass es den Rest schon irgendwie für mich regeln wird. Und was soll ich sagen, mit meinem Grenzübertritt nach Belgien hat sich irgendetwas geändert und ich fühle mich seitdem ganz anders. Mein erstes Zwischenziel in Belgien war Arlon. Mein Track hätte mich um diese schöne kleine Stadt herumgeführt, aber irgendetwas hat mich in die Stadt gezogen und ich wurde mit einem Markt (juhu, denn auch in Belgien haben die Supermärkte an Christi Himmelfahrt geschlossen) und einem wunderschönen Live-Konzert überrascht, dem ich über eine Stunde zugehört habe.
 
Danach ging es ganz leicht und unbeschwert weiter und ich war plötzlich zuversichtlich, dass sich schon eine Übernachtungsmöglichkeit auftun würde. Die Strecke danach war nicht sonderlich schön, denn mein Track wollte mich über 15 km an einer Bundesstraße entlang führen - das ist wirklich kein Spaß. Leider muss ich in diesem Zuge anmerken, dass ich seit Beginn meiner Reise noch kein radfahrerfreundliches Land befahren habe. In Finnland hat man als Radfahrer immer Vorfahrt, die Leute grüßen dich, wenn du mit dem Rad unterwegs bist, wie ihr Freund und das Wichtigste: Sie halten Abstand und verringern ihre Geschwindigkeit beim Überholen. Bitte bitte denkt in Zukunft daran, dass du und ich das auf dem
Rad sein könnten und tut dasselbe! Aber auch das hatte sein Gutes und ich bin kurzerhand in irgendeinen Waldweg abgebogen, von dem ich bis heute nicht weiß, ob man ihn befahren darf oder nicht. Auf den Beschilderungen stand die ganze Zeit etwas mit „attention“… aber wer versteht schon französisch/belgisch/luxemburgisch? Fakt ist, dass ich dadurch die coolsten Trails (für mein Rad zumindest) sowie den wohl schönsten Ort Belgiens gefunden habe, bevor ich an meinem Ziel angekommen bin.
 
Der „Campingplatz“ war nicht wirklich in Betrieb.. glücklicherweise war aber bei meiner Ankunft gerade der Besitzer da und hat mir erlaubt, kostenlos und direkt an der Sûre zu campen!! :-) Die Nächte sind nach wie vor noch kühl, aber aushaltbar. Am nächsten Tag habe ich wieder den nächsten Campingplatz weit und breit angesteuert - diesmal aber mit einer fast schon beängstigenden Ruhe und Zuversicht - und ich kam nach einer wundervollen Strecke, nämlich größtenteils auf dem EuroVelo 5 (ich hätte nie gedacht, dass diese Radwege so viel können - es ging größtenteils über Waldwege und sehr schön durchs Grüne) in dem Ort Houffalize an.

Und ihr glaubt nicht, was mich dort erwartet hat, einfach ein komplettes Dorf belagert von Mountainbikern. Die meisten hatten Startnummern an den Rädern und auch der Campingplatz war von Radfahrern jeden Alters belagert. In Houffalize haben einfach das ganze Wochenende über Mountainbikerennen stattgefunden. Für viele von euch ist meine Euphorie vielleicht nicht nachvollziehbar (verständlicherweise), aber ich habe mich dort sofort wie zu Hause gefühlt (hinzu kommt, dass ich 50km lang bis auf 1 Million Kühe keine anderen Lebewesen gesehen habe).

Aber wie kann es bitte sein, dass ich ausgerechnet an diesem Wochenende an diesem Ort bin? Ich hatte wieder einen Zeltplatz direkt an der Sûre und habe mir begeistert die Teams, die Biker, deren Räder und Ausrüstung angeschaut. Die nervöse Anspannung am Abend vor dem Rennen, die Startnummern am Rad befestigen, das Rad nochmal durchchecken, gut essen & früh schlafen gehen. Am nächsten Morgen waren alle ganz konzentriert, aber gleichzeitig auch voller Vorfreude. Auch die, die an dem Tag kein Rennen hatten, sind mit dem Rad umher gefahren oder haben die Rennfahrer unterstützt. Die Kinder zu sehen mit voller Radbeherrschung..einfach toll und ich habe die Stimmung sehr genossen. Ich habe es aber auch genossen, dass ich in Ruhe meinen Kaffee trinken und das Ganze einfach nur beobachten konnte ;-). 
 
Ich habe sicher lange damit gehadert, dass ich selbst keine Rennen mehr fahre und es nie so weit geschafft habe, wie ich es mir als Kind erträumt habe. Auch wenn ich aufgehört habe, Rennen zu fahren bevor es „ernst“ wurde, muss man trotzdem verstehen, dass sich für 15 Jahre meines Lebens zumindest in meinem Kopf alles um den nächsten Wettkampf gedreht hat. Auch wenn das nach Außen für manche mehr, für manche weniger sichtbar war, alle meine Gedanken und Handlungen waren darauf ausgerichtet. Und auch wenn mir das damals nicht bewusst war, hat es schon eine große Lücke hinterlassen als ich mein Studium angefangen und damit diesen Traum aufgegeben habe. Ich habe das sicherlich mit allen möglichen anderen Wettkämpfen versucht zu kompensieren - aber vielleicht ist es auch ok, wenn man einfach mal traurig sein und es kommunizieren darf, wenn etwas Schönes zu Ende geht - allermeistens bedeutet das ja nur, dass etwas noch viel Schöneres auf uns wartet.

Denn ich denke das Wichtigste ist, dass ich in der Zeit danach, in der ich das Radfahren sehr vernachlässigt habe, - weil ich dachte, dass mich nur das Radrennen fahren glücklich machen würde - meine Liebe zum Radfahren Stück für Stück wiedergefunden habe und ich mich gerade einfach auf dieser unglaublichen Radreise befinde. Ich habe die Liebe zum Radfahren heute nicht nur in einer Facette wiedergefunden, sondern gleich in allen, die das Radfahren zu bieten hat. Ich liebe es, mit meinem Stadtrad rumzudüsen, ich genieße das Rennradfahren genauso sehr wie mit dem Reiserad unterwegs zu sein und ich liebe es, mit meinem Mountainbike mit voller Geschwindigkeit die schönsten Downhills zu fahren und bei technischen Passagen die ein oder anderen Männer abzuziehen. Ich liebe es, beim Radfahren jetzt auch die Landschaft genießen zu können und den Blick für Tiere, Wald und meine Umwelt zu haben. Ich liebe es, mit dem Kopf nach oben und nicht sturr nach unten gerichtet zu fahren und ich liebe es, nicht zum 15. Mal dieselbe Strecke fahren zu müssen sondern innerhalb von 4 Wochen schon mein 5. Land zu sehen! Vorallem liebe ich es, meine Begeisterung dafür weiterzugeben! Denn bei all der schönen Stimmung um das MTB-Event in Houffalize herum, einen Blick oder ein freundliches Wort für „Andere“ haben die Allerwenigsten - und ein Feierabendbier geht schon gar nicht.
 
Dennoch, voller Energie, eventuell etwas im Rennmodus und mit tausenden von entgegenkommenden Bikern und Rennradfahrern habe ich die harte Strecke bis Malmedy spielend, strahlend und glücklich gemeistert und genossen. Und nicht nur das, es war einfach der perfekte Tag. Eine Strecke, die alles zu bieten hatte: Tolle Rennradpassagen, schöne Waldwege, einen schnellen Radweg (ich bin einen Teil der Vennbahn gefahren) und einzigartige Feldwege, die immer wieder auf und ab führten mit wunderschönen Ausblicken über die Ardennen und Ostbelgien. Es ist eine so unglaublich wunderschöne Region hier. Ich bin so froh und dankbar, dem Rat von Greg gefolgt zu sein und wenn ihr euren nächsten Wander- oder Radurlaub plant, überlegt wirklich ernsthaft hierherzukommen. Und weil ich so viel über das schlechte Wetter gejammert habe, es war auch der perfekte Tag, weil es ein wahrer Sommertag war.

In Malmedy bin ich für zwei Tage bei der wunderbaren und in sich ruhenden Agnes, 5 Sterne Couchsurfing wie bisher immer und sitze gerade auf dem Balkon im Grünen am fast höchsten Punkt mit Blick über ganz Malmedy - eine kleine aber schöne wie geschichtsträchtige Stadt - und genieße den Sommerabend. Agnes ist 63 und in ihren Handlungen immer 20 Jahre voraus - wie gesagt, ich überlege einfach ein Buch über jeden einzelnen Host zu schreiben.
 
Ich freue mich unglaublich auf meine nächsten zwei Etappen durch das Hohe Venn / Eifel in Belgien und Deutschland. Und danach freue ich mich auf 4 Tage „radfrei“ und darauf, einige meiner liebsten Menschen zu treffen :))))!!!
 
PS: Das hier sollte eigentlich ein Blogeintrag über die Schönheit Süd- und Ostbelgiens und meine neue Leichtigkeit werden, stattdessen wurde es offensichtlich die Verarbeitung eines tiefsitzenden Themas 😂 - also, wer beim Lesen noch nicht geglaubt hat, dass ich mit dem Thema abgeschlossen habe, spätestens jetzt habe ich es ;-).

PPS: Probiert das mit dem Schreiben mal selbst aus. Ob am Handy, Computer oder handschriftlich - einfach hinsetzen und schreiben. Manchmal ist es unglaublich, was dabei plötzlich herauskommt und unser Körper uns offensichtlich mitteilen möchte ;-). Ich wünsche euch viel Spaß dabei und die ein oder andere Erkenntnis - und ganz viel belgische Leichtigkeit :-)!


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Kommentare: 3
  • #1

    wer wohl? (Montag, 03 Juni 2019 12:20)

    ich bin so froh ..... den Kopf nach oben!! Die Landschaft und die Menschen genießen!!
    Feierabendbier!!
    Viele Jahre habe ich gehofft ... und deinen Kampf gesehen und ( ertragen) ;-)
    jetzt hast du es erkannt.
    Ich freu mich
    Mama

  • #2

    Desi (Montag, 03 Juni 2019 12:41)

    Manche reisen eben nach Indien, andere mit dem Rad durch Europa, um das Wesentliche zu erkennen...! ;-)
    Ich freue mich unendlich und musste mich beherrschen, jetzt nicht verheult aus der Mittagspause zurückzukommen... (Freudetränen!) In Zukunft lese ich deine Texte abends. ;-)
    Hab dich lieb
    Dein Schwesterherz

  • #3

    Roland (Montag, 10 Juni 2019 17:56)

    Hallo Viola,

    "so leicht" und flüssig wie Du schreibst (und fährst) solltest Du vielleicht ein Buch über Radeln und Selbstfindung schreiben oder Deinen Blog als Reisebericht mit vielen Erkenntnissen veröffentlichen :-)

    Viele Grüße!